Augen allein reichen nicht aus

Der kinästhetisch Prozess kann als Analyse der Wegstrecke betrachtet werden, durch die wir uns der Entfernung zu einem Objekt bewusst werden. Ob der Tisch vor uns einen Meter und das Klavier dahinter drei Meter von uns entfernt sind, entschieden wir nicht - wie man vermuten könnte - durch eine spezielle Fähigkeit unseres Sehvermögens oder irgendwelche speziellen Lichtreflexe, die wir interpretieren, sondern allein mithilfe unseres muskulären Systems. Die Fähigkeit, Distanzen abzuschätzen, wurde im Lauf der Zeit mit Hilfe einer Vielzahl von Informationsnen aufgebeut, die von der Augenmuskulatur beim Fokussieren eines Bildes auf die Netzhaut geliefert wird. Die dabei notwendige muskuläre Anpassung hängt von der Entfernung, der Größe und der Gestalt des Objekts ab. Die Eindrücke aus der Muskelarbeit werden an das Gehirn weitergeleitet, dort interpretiert und in eine Entferungsgröße umgesetzt. Dabei entstehen komplexe Informationen oder es wird - wenn vorhanden - auf bereits vorhandene Informationen zurückgegriffen, die aus muskulären, taktilen und visuellen Erfahrungen zu Farbe und Größe eines Objekts stammen. Diese Erfahrungen sind das Produkt sensorischer Rückemeldungen bei Augenbewegungen oder Bewegungen des Körpers in Richtung auf das Obejakt sowie dem Greifen danach und den dabei entstehenden taktilen Erfahrungen beim Berühren und Erkunden von Gestalt, Umfang und Beschaffenheit des Objektes. Die räumliche Erfahrung, die bei einer früheren Muskeltätigkeit gesammelt wurde, wird bei der Augenbewegung aus dem Gedächtnis abgerufen. Wäre dies nicht der Fall, könnten wir allein über die von der Augenmuskulatur kommenden Informationen nicht entscheiden, ob des sich bei einem Objekt um einen großen Tisch in größerer Entfernung oder einen kleinen Tisch in der Nähe handelt.

Aus: Mabel E. Todd, "Der Körper denkt mit". Verlag Hans Huber.

In welche Richtung fährt dieser Zug?

Unser Gehirn setzt ständig Informationen zusammen, oft aus Quellen, die uns nicht bewusst sind. In dieser Situation würden im täglichen Leben akustische Reize und taktile Empfindungen wie der vom Zug verursachte Luftzug eindeutig darauf hinweisen, aus welcher Richtung die Bahn kommt.

Stellt euch vor, ihr würdet ein Objekt vor einer weißen Wand betrachten. Woher weiß ich, ob ich den Kopf drehe - oder ob ich ihn still halte, und das Objekt bewegt sich durch den Raum?

Visuelle Eindrücke allein geben darüber keinen Aufschluss - Erst mit dem kinästhetischen Feedback gibt die Bewegung einen Sinn.

Unsere Sinne arbeiten nicht unabhängig.

Fehler im System

Dieses System der Zusammenarbeit ist anfällig für Fehler - viele optische Illusionen und Zauberkunststücke beruhen darauf.

In der nächsten Illusion seht ihr eine Tänzerin, die sich sowohl im als auch gegen den Uhrzeigersinn drehen kann. Die scheinbare Richtung der Drehung beruht auf einer (unbewussten) Annahme, ob sich die in der Silhouette nicht sichtbaren Arme vor oder hinter dem Körper der Figur befinden. Interessanterweise fällt es mir wesentlich einfacher, die Richtung zu sehen, in die ich mich selbst bevorzugt drehe.

Hat es nicht funktioniert? Hier ist die Auflösung: https://www.youtube.com/watch?v=b51Nc0NykqM

Aufrecht mit der Wasserwaage

Unsere Körperwahrnehmung und andere Sinne haben großen Einfluss auf das, was wir sehen - aber dieser Zusammenhang ist umkehrbar: Augen spielen eine sehr große Rolle bei unserer Körperwahrnehmung, insbesondere in Bezug auf Gleichgewicht und Balance. Das geht so weit, dass Menschen, deren Gleichgewichtssinn weitgehend kompromittiert ist, mit Hilfe der Augen die Senkrechte finden können beispielsweise unter Zuhilfenahme einer Wasserwaage, die dann zuverlässig eine Horizontale zeigt.

Allerdings hat diese Art der Kompensation einen Preis: Die Augen sind jetzt ständig in eine Funktion eingebunden und verlieren damit ihre Fähigkeit, sich unabhängig und differenziert zu bewegen.

In geringerem Maßstab trifft das auf viele von uns zu: es ist für Viele wesentlich einfacher, auf einem Bein zu stehen, wenn unsere Augen offen sind.

Menschen, deren Gleichgewicht nicht optimal ist - aus welchen Gründen auch immer - können die Anspannung ihrer Augenmuskulatur unter Umständen verringern, indem sie ihre Balance verbessern.


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